Artikel erschienen am 04.06.2015
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Die Adhäsivtechnik – vom Opfern gesunder zum Erhalt kranker Zahnsubstanz

Ein Umdenken in der restaurativen Zahnheilkunde

Von Andreas Ohnhäuser, Braunschweig

Nachdem Buoncore 1955 die Säureätztechnik zur Verbesserung der Haftung von Kunststoffen am Zahnschmelz entdeckt hatte, begann eine neue Ära in der restaurativen Zahznheilkunde. Um fehlende oder verloren gegangene Zahnhartsubstanz zu ersetzen, war es bisher erforderlich, neben der erkrankten Zahnhartsubstanz auch gesunde Zahnhartsubstanz abhängig vom Restaurationsmaterial und von der Befestigungsart zu opfern. Mit der adhäsiven Befestigung von Kunststoffen eröffnet sich nun die Möglichkeit, rein defektbezogene Restaurationen anzufertigen und so mehr gesunde und sogar erkrankte Zahnhartsubstanz zu erhalten.

Entwicklung und neue Perspektiven

Durch die Säureätztechnik ist es möglich, Mikroporositäten auf der Zahnschmelzoberfläche zu erzeugen, die Kunststoffen eine sehr starke Haftverankerung ermöglichen. Diese Verankerung gewährleistet einen stabilen und dauerhaften Verbund zwischen Zahnoberfläche und verschiedenen Restaurationsmaterialien. Nachdem Anfang der 1990er-Jahre auch die ersten Dentinhaftvermittler entwickelt wurden, war es nun auch möglich, den Haftverbund auf alle Zahnhartsubstanzoberflächen auszudehnen und diese Erkenntnis konsequent in Form der adhäsiven Zahnheilkunde umzusetzen und weiterzuentwickeln. Eine adhäsive Verbindung zwischen Zahnoberfläche und Restauration schafft nicht nur eine stabile Verankerung, sondern erwies sich auch mit fortschreitender Entwicklung der Werkstoffe als zuverlässige Diffusionsbarriere gegen das Eindringen von Bakterien und Flüssigkeiten. Der Weg in eine substanzschonende und defektorientierte restaurative Zahnheilkunde war bereitet.

Die Versiegelung

Wenn man sich die Kauflächen der Backen- und Mahlzähne einmal im Spiegel genau anschaut, so stellt man fest, dass diese Flächen nicht glatt sind. Sie bestehen vielmehr aus einem System feinster Rillen und Furchen (Fissuren). Diese Fissuren sind groß genug für die Anlagerung von Plaquebakterien, jedoch kaum zugänglich für eine vollständige Reinigung mit der Zahnbürste. Daher ist die Fissurenkaries die häufigste kariöse Schädigung der Zähne nach dem Durchbruch in die Mundhöhle. Bei der Fissurenversiegelung wird nun die Zahnoberfläche im Bereich der Fissuren nach einer gründlichen Reinigung mit Säure aufgeraut und mit einem dünnflüssigen Kunststoff versiegelt. Dieser verbindet sich dauerhaft mit den Mikroporositäten im Zahnschmelz und verschließt die Fissuren mit einer glatten, gut reinigbaren Oberfläche. Zum einen riegelt er in der Tiefe liegende Bakterien von der lebensnotwenigen Zuckerzufuhr ab (Diffusionsbarriere), zum anderen glättet er die Zahnoberfläche für eine effizientere Zahnreinigung und hilft so, das Risiko für kariöse Angriffe zu verringern.

Die Infiltration

Die Versiegelung wurde 2009 an der Universität Kiel weiter entwickelt. Es gelang, einen Kunststoff und ein Verfahren zu entwickeln, dass es diesem Kunststoff ermöglicht, in bestehende durch Karies verursachte Defekte einzudringen und die entstandene Porosität auszufüllen. Er infiltriert den kariösen Defekt und verschließt ihn dauerhaft. Auch hier fungiert der Kunststoff als Diffusionsbarriere für Nährstoffe und Bakterien. In diesem Falle jedoch nicht auf der Zahnoberfläche, sondern in der Zahnoberfläche. Das Voranschreiten des kariösen Prozess an dieser Stelle kann gestoppt werden. Zurückgebliebene Bakterien in der Tiefe verhungern und der kariöse Prozesses in der Tiefe ist arretiert, ohne dass Zahnhartsubstanz entfernt werden musste. Die Infiltration ermöglicht das Stoppen von durch Karies verursachten Defekten, solange die Zahnoberfläche noch unbeschädigt ist (reversibler kariöser Defekt). Sie beruht auf dem Prinzip der Wiederherstellung des Mineralistationsgleichgewichtes (Ohnhäuser: Karies – Das Loch im Zahn oder eine Erkrankung, die zu Löchern führt?/Service-Seiten Gesundheit 2013, S. 52). Auch hier kommt es zum Stillstand des Mineralisationsverlustes, wenn durch eine Verminderung der täglichen Zucker-/Kohlenhydratzufuhr den Bakterien die Nahrungsgrundlage entzogen wird und damit die schädliche Säureproduktion zum Erliegen kommt. Bei konsequenter Wiederherstellung des Mineralisationsgleichgewichtes kommt es sogar zu einer Remineralisation des kariösen Defektes und die Oberfläche wird wieder verschlossen. Die Wunde kann heilen.

Beginnende Karies im Zahnwischenraum stoppen mit der Infiltrationsmethode

Die Infiltrationsmethode schließt die Behandlungslücke zwischen vorbeugenden Maßnahmen und Füllungstherapie. Bei frühzeitiger Erkennung (bevor ein Loch entstanden ist), kann die Karies durch die Infiltrationsbehandlung wirksam gestoppt werden – ohne Bohren, ohne Spritzen.

Die Adhäsivfüllung – defektbezogener Zahnsubstanzersatz

Die gesammelten Erkenntnisse und verbesserten Materialien ermöglichten nun, einen kaustabilen, defektbezogenen Ersatz von Zahnhartsubstanz und einen dauerhaften, diffusionsdichten Verschluss beschädigter Zahnhartsubstanz. Es war nun nicht mehr nötig, gesunde Zahnsubstanz für die Materialeigenschaften oder die Verankerungsmöglichkeit des Restaurationsmaterials zu opfern. Die Füllungen wurden immer kleiner. Als Folge wurden osszilierende, einseitig belegte Schleifkörper entwickelt, die die Beschädigung angrenzender Zahnoberflächen durch den Bohrer vermeiden und so noch kleinere Restaurationen ermöglichen. Es entstand der Begriff der minimalinvasiven Zahnheilkunde. Das Ziel war es fortan, so viel gesunde Zahnsubstanz wie möglich zu erhalten.

Die Versiegelung von kariös infiziertem Gewebe – Erhalt und Regeneration erkrankter Zahnhartsubstanz

Aktuelle Forschungsergebnisse aus England und der Universität Köln konnten belegen, dass ein diffusionsdichter Verschluss eingeschlossenen Bakterien die Nahrungsgrundlage entzieht und diese regelrecht unter der Restauration verhungern. Man hatte „nervnahe“ Bakterien zurückgelassen, ihre Menge bestimmt und den kariösen Defekt mit einer diffusionsdichten, adhäsiven Restauration versehen. Nach 6 Monaten wurden diese Restaurationen wieder entfernt und die im Zahn verbliebene Bakterienmenge erneut gemessen. Es stellte sich heraus, dass sich die Bakterienmenge um 99 % reduziert hatte und nur noch so viele Bakterien lebten, wie sonst auch nach einer klassischen, totalen Kariesentfernung. Nun war es möglich, nicht nur gesunde Zahnsubstanz nicht zu opfern, sondern sogar z. T. erkrankte Zahnhartsubstanz zu erhalten. Weitere Untersuchungen zeigten, dass diese Vorgehensweise die Anzahl nötiger Wurzelkanalbehandlungen deutlich reduziert. Auch hier ist es also möglich, durch die adhäsive Zahnheilkunde immer mehr Zahngewebe zu erhalten.

Ersatz verloren gegangener Zahnhartsubstanz

Mithilfe der Adhäsivtechnik ist natürlich nicht nur der Ersatz von kariös erkrankter Zahnsubstanz möglich. Weitere Ursachen von Zahnhartsubstanzverlust sind z. B. Zahnfrakturen durch Unfälle, erosive Verluste durch übermäßigen Einfluss externer oder interner Säuren (Getränke, Obst oder auch Magensäure), Verlust durch Zähneknirschen oder das „Wegputzen“ der Zahnhartsubstanz durch eine zu gut gemeinte Zahnpflege. Bei all diesen Fällen ist es fast immer möglich, die verloren gegangene Zahnsubstanz mithilfe der Adhäsivtechnik ohne jeglichen Verlust gesunder Zahnsubstanz wieder herzustellen. In der Vergangenheit waren hierfür oft großzügige Opfer an gesunder Zahnsubstanz erforderlich, um die damaligen Restauration zu verankern.

Das direkte Veneering – noninvasive Ergänzung und Umformung von Zähnen

Es ist nicht nur möglich, verloren gegangene Zahnsubstanz, sondern natürlich auch von Anfang an fehlende Zahnhartsubstanz zu ergänzen. Hier ermöglicht die Adhäsivtechnik, kosmetische Korrekturen der Zahnform bei zu kleinen oder verkümmerten Zähnen durchzuführen, ohne die Integration der Zahnoberfläche zu beschädigen. Weiterhin ist manchmal durch solch ein schonendes Umformen auch die kosmetische Korrektur kleiner Fehlstellungen möglich.

Indirekter Ersatz verloren gegangener Zahnhartsubstanz

Außer der adhäsiven Verankerung an den vorbehandelten Zahnoberflächen ist es auch möglich, die Oberflächen anderer Werkstoffe aufzurauen und so eine mikromechanische Verankerung des Kunststoffes zu gewährleisten. Auf diese Weise können nun auch größere Defekte der Zahnhartsubstanz mit individuell hergestellten Keramik- oder Metallrestaurationen ersetzt werden. Überwiegend kommt hier eine speziell gehärtete Glaskeramik zum Einsatz, mit der auch komplizierte und aufwendige Restaurationen möglich sind.

Die Adhäsivbrücke

Selbst der Ersatz einzelner oder mehrerer Zähne ist mit der Adhäsivtechnik möglich. Bei der Adhäsivbrücke (Abb. 1) wird der zu ersetzende Brückenzahn mithilfe eines Flügels an der Innenfläche des Nachbarzahnes befestigt. Untersuchungen haben gezeigt, dass für den Ersatz von z. B. einem Frontzahn die Verankerung an nur einem Nachbarzahn zu deutlich längeren Überlebensraten der Brücke führt. Berücksichtigt man hier einige kleine Präparationsregeln, so muss gegenüber einer konventionellen Brücke nur ca. 2 bis 4 % eines Zahnes statt bisher 60 % von jeweils zwei Zähnen geopfert werden. Die Überlebensraten entsprechen bei sachgemäßer Indikation in etwa der konventionellen Technik bei deutlich geringerem Zahnsubstanzverlust und leichter zu gewährleistender Ästhetik.

Abb. 1: Adhäsivbrücke von der Zahninnenseite

Die Verankerung von Zahnersatz an adhäsiven Halteelementen

Ist es aufgrund eines umfangreichen Zahnverlustes erforderlich, die verloren gegangenen Zähne durch herausnehmbaren Zahnersatz zu ersetzen, gibt es in der konventionellen Technik die Möglichkeit, den Zahnersatz entweder mit Klammern oder mit Doppelkronen/Geschiebekronen zu verankern. Bei der ersten Wahl bleiben die Zähne unversehrt, aber man hat dafür an der Außenfläche der Zähne eine sichtbare metallene Klammer. Wollte man dies aus z. B. ästhetischen Gründen vermeiden, musste hierfür der Zahn für eine Ankerkrone abgeschliffen werden. Mit der Adhäsivtechnik ist es nun möglich, ein Verankerungselement an der nicht sichtbaren Innenseite der Zähne adhäsiv zu befestigen, um dann daran den herausnehmbaren Zahnersatz zu verankern. Hierfür sind nur minimale Präparationen an der Zahnhartsubstanz erforderlich (2 bis 4 %). Dieses Verfahren vereint also Zahnhartsubstanzschonung mit ästhetischen Ansprüchen (Abb. 2 und 3).

Abb. 2: Adhäsivanker ohne herausnehmbarem Zahnersatz

Abb. 3: Adhäsivanker mit herausnehmbarem Zahnersatz

Fotos: DMG

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