Artikel erschienen am 16.07.2019
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Lebensqualität

Glücksempfindungen, Wohlbefinden, Zufriedenheit

Von Winfried Görlitz, Königslutter am Elm | Christiane Stein, Königslutter am Elm

Sind Betroffene von schweren psychischen Erkrankungen, wie Depression oder Schizophrenie, überhaupt in der Lage, sich Gedanken über die Qualität ihres Lebens zu machen? Lebensqualität – was bedeutet das eigentlich? Es ist schwierig, den Begriff klar zu definieren oder zu messen. Sie wird subjektiv erlebt.

Es ist ein multidimensionales Konstrukt, welches viele Faktoren beinhaltet. Neben materiellen (Lebensstandard) und immateriellen Faktoren (Bildung, Beruf, sozialer Status) werden subjektive, schwer messbare Faktoren – wie Glücksempfindungen, Wohlbefinden, Zufriedenheit, soziale Zugehörigkeit, Selbstverwirklichung – von objektiven Faktoren, bei denen Grundbedürfnisse identifiziert und die Lebensverhältnisse von außen betrachtet werden, unterschieden. Lebensqualität wird also aus unterschiedlichen Perspektiven, von der eigenen Wahrnehmung, persönlichen Werten und Situation abhängig, betrachtet und bewertet.

Die Lebensqualität setzt sich aus verschiedenen Werten und Aspekten zusammen

Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO wird die Lebensqualität als individuelle Wahrnehmung der eigenen Lebenssituation im Kontext der jeweiligen Kultur und des jeweiligen Wertesystems und in Bezug auf die eigenen Ziele, Erwartungen, Beurteilungsmaßstäbe und Interessen definiert. Die individuelle Lebensqualität wird dabei durch körperliche Gesundheit, den psychischen Zustand, den Grad an Unabhängigkeit, die sozialen Beziehungen sowie durch ökologische Umweltmerkmale beeinflusst (The WHOQOL Group, 1994).

Mit Sicherheit lässt sich sagen, dass die Gesundheit in Bezug auf die Lebensqualität eine bedeutende Rolle einnimmt. Doch gibt es Unterschiede in der Wahrnehmung. Auch ein aus medizinischer Sicht gesunder Mensch fühlt sich nicht immer gut. Es ist davon auszugehen, dass Lebensqualität für einen kranken Menschen etwas anderes bedeutet als für einen gesunden.

Vor allem bei chronischen Erkrankungen geht es bei der Beurteilung nicht allein um die Heilung oder Lebensverlängerung, sondern vielmehr um das subjektive Erleben des Erkrankten unter Berücksichtigung körperlicher, emotionaler, mentaler, sozialer, spiritueller und verhaltensbezogener Aspekte des Wohlbefindens sowie seiner Funktionsfähigkeit. Dabei stellen sich immer wieder Fragen, ob Lebensqualität allgemeingültig objektivierbar und definierbar ist und inwiefern dynamischen Veränderungen, wenn z. B. bei schwer kranken Patienten im Verlauf auch Anpassungsprozesse zu beobachten sind, Rechnung getragen wird. Zu diesen Fragen existieren zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen und testdiagnostische Beurteilungsverfahren. Die Ergebnisse sind dabei jedoch höchst unterschiedlich. Einigkeit besteht darüber, dass die gesundheitsbezogene Lebensqualität nur sinnvoll aus der subjektiven Sicht des Einzelnen beurteilt werden kann.

Das Thema „Lebensqualität“ in der Behandlung von psychischen Erkrankungen wie Depression oder Schizophrenie

Ein bis zwei von 100 Menschen erkranken einmal im Leben an einer Psychose. 51 Mio. weltweit leiden unter einer Schizophrenie. Laut der Stiftung Deutsche Depressionshilfe gehören Depressionen zu den häufigsten und hinsichtlich ihrer Schwere am meisten unterschätzten Erkrankungen. In Deutschland sind rund 5,3 Mio. Erwachsene im Laufe eines Jahres an einer depressiven Störung erkrankt.

„Bei der Schizophrenie, einer Form der Psychose, handelt es sich um eine psychische Erkrankung mit vielfältigem Erscheinungsbild“, erklärt Christiane Stein, leitende Ärztin der Abteilung für psychotische Erkrankungen in der Klinik für Allgemeinpsychiatrie und -psychotherapie des AWO Psychiatriezentrums (APZ) Königslutter. „Verändert sind das Denken, die Wahrnehmung, die Gefühlslage, der Realitätsbezug, oft auch die Sprache und der Kontakt zu anderen Menschen. Akut Erkrankten fällt es schwer, zwischen Realität und eigener Wahrnehmung zu unterscheiden. Viele Betroffene hören Stimmen, die andere nicht hören, fühlen sich bedroht, verfolgt oder fremdgesteuert, möglicherweise auch von nahestehenden Personen, erhalten Botschaften von fremden Mächten, beziehen Dinge auf sich, z. B. aus der Zeitung oder fühlen sich körperlich beeinträchtigt.“ Frühwarnzeichen für das Auftreten einer Schizophrenie können Wesensveränderungen, Reizbarkeit, Selbstvernachlässigung, Veränderung der Gefühlswelt mit Ängstlichkeit und depressiver Stimmung, aber auch verflachte Gefühle, Veränderung der Leistungsfähigkeit, sozialer Rückzug mit Abbruch von Kontakten und Veränderung der Wahrnehmung wie Intensivierung von Gerüchen oder Geräuschen und eigentümlichen Vorstellungen sein.

Eine Depression ist eine ernst zu nehmende Erkrankung

„Sie beeinflusst das Denken, Fühlen und Handeln des Betroffenen, kann mit körperlichen Beschwerden einhergehen und erhebliches Leid verursachen“, erklärt Winfried Görlitz, leitender Arzt der Abteilung für affektive Störungen in der Klinik für Allgemeinpsychiatrie und -psychotherapie des APZ. „Klar kennt jeder Mensch mal Phasen im Leben, in denen alles grau erscheint, in denen man keine Lust auf irgendwas verspürt, in denen man sich ‚deprimiert‘ fühlt. Die Ursachen dafür sind vielfältig: Probleme mit der Familie, am Arbeitsplatz oder mit der Gesundheit.“ Aber eine Depression im medizinischen Sinne sei etwas anderes als eine vorübergehende Phase der Niedergeschlagenheit oder ein Stimmungstief, so Görlitz weiter. „Menschen mit einer Depression erleben ihre Umwelt als zutiefst finster und die Frage nach der Qualität ihres Lebens stellt sich ihnen in dieser Phase gar nicht, sondern die Frage nach der eigenen Existenz.“

So wie andere Menschen sich innerlich immer wieder mal die Frage nach ihrer Lebensqualität, ihrer Lebenszufriedenheit stellen, seien depressive Menschen dazu gar nicht in der Lage, „da sie einen hohen Zweifel an der eigenen Lebensqualität haben, weil ihre innerlichen Bedingungen dafür nicht stimmen und die Qualität des Lebens als solche gar nicht empfinden können.“ Daher brauche man zu Behandlungsbeginn Betroffene auch nicht nach ihrer Lebensqualität zu fragen, betont Görlitz. „Die Frage danach und was der Patient selbst zur eigenen Gesundung beitragen kann, wie er wieder Sinn und Qualität in sein Leben bringen kann, die stellt sich erst im Behandlungsverlauf, wenn der stärkste Druck der Depression bereits abgeklungen ist.“

Der Begriff „Lebensqualität“ habe in allen Bereichen des Lebens an Bedeutung gewonnen, ergänzt Christiane Stein. „Aber in der Klinik selbst und während der Behandlung wird die Frage dazu eher indirekt gestellt, über die Behandlungszufriedenheit, Behandlungsziele oder Veränderungswünsche.“ Die Aufgabe des Therapeuten sei es, einem schwer depressiven oder einem von massiven psychotischen Symptomen gequälten schizophrenen Patienten zu Beginn der Behandlung Hoffnung und Zuversicht zu vermitteln, dass er mit der Behandlung aus dieser Situation he­rauskommt, denn „der Betroffene leidet jeden Tag, jede Minute. Während der akuten Behandlungsphase hat es keinen Sinn Patienten, deren Wahrnehmung und Gedanken durch die Erkrankung verzerrt sind, sie womöglich alles negativ bewerten oder einen mangelnden Realitätsbezug haben, nach ihrer Lebensqualität zu fragen. Erst wenn der Patient mithilfe der Behandlung stabiler ist, kann man diese Fragen stellen: Was will ich in meinem Leben ändern? Was kann ich tun, um Stressfaktoren zu reduzieren, die eine erneute Krankheitsphase auslösen könnten?“

Ein ganz wichtiger Aspekt sind auch die Anpassungsprozesse

Wie gehen sie mit ihrer Krankheit um? „Wenn ich an Schizophrenie Erkrankte nach ihrer Lebensqualität frage, sagen sie häufig, dass sie gerne wieder auf ihre ursprünglichen Fähigkeiten zurückgreifen möchten. Doch es kann krank­heitsbedingt zur Diskrepanz zwischen den ursprünglichen und tatsächlichen Fähigkeiten kommen, sodass hier eine behutsame Vorgehensweise und Unterstützung bei der Krankheitsbewältigung stattfinden muss, um Betroffene nicht mit ihren Defiziten zu konfrontieren. Hier besteht die Gefahr, dass insbesondere Patienten mit einer Schizophrenie nach Abklingen der psychotischen Symptome mit zunehmenden Realitätsbezug suizidal werden können.“

Ähnlich verhält es sich mit depressiven Menschen. Als Erstes gilt es, den betroffenen Patienten zu stützen, ihm zu helfen, die Krankheit zu akzeptieren und dann wieder eine Lebensqualität zu entwickeln. „Es ist wichtig, den Patienten dort abzuholen, wo er in seiner Realität steht“, erklärt Herr Görlitz. „Als Therapeut kann ich nicht wie selbstverständlich meine eigenen Maßstäbe, was ich persönlich für meine eigene Lebensqualität halte, dem Patienten vorgeben. Ich muss versuchen, mich in die Situation des Patienten einzufühlen. Was könnte für diesen Menschen Lebensqualität in seiner Situation bedeuten: Ist es die Abwesenheit von Schmerzen, der Zugewinn von Mobilität? Wie verhält es sich, wenn das bisherige Hobby, welches bisher Glück und Zufriedenheit gebracht hat, so nicht mehr möglich ist. Gibt es andere Möglichkeiten, dass der Patient dennoch – und nicht trotz – der Krankheit, nach seinem Dafürhalten ein menschenwürdiges Dasein führen kann?“

Denn: Depressive Menschen beurteilen ihr eigenes Leben als subjektive Haltung zu sich selbst als zutiefst menschenunwürdig. Sie sind voll mit negativen Gedanken über ihre eigene Person, über ihre Umwelt und ihren nächsten Angehörigen (Schuldgefühle). „Dadurch graben sie sich ganz tiefe Gräben. Als Therapeut steht man dann häufig da und streckt die Hand aus und sagt: ,Ich bin Bestandteil eines Lebens, was Ihnen helfen möchte. Versuchen Sie daran zu glauben, auch wenn Ihnen das derzeit unmöglich erscheint.‘ Diesen Widerspruch findet man bei depressiven Menschen sehr häufig. Und im therapeutischen Prozess versuchen wir diesen ganz langsam mit dem Patienten zu überwinden.“

Fortschrittliche Therapiemöglichkeiten

In den vergangenen Jahren haben sich die Therapiemöglichkeiten deutlich verbessert. Im Gegensatz zu früher wird der Psychotherapie ein hoher Stellenwert zugeschrieben. Neben einer medikamentösen Therapie kommen weitere Therapieverfahren zur Anwendung. Hierzu gehören Psychoedukation (wissenschaftlich fundierte, verständliche Informationsvermittlung über die Erkrankung selbst) sowie Ergo-, Kunst- oder Sporttherapie und weitere Verfahren zur Verbesserung der kognitiven Fähigkeiten. Die Erkrankung selbst kann je nach Schwere der Symptomatik zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Lebensqualität führen, die entscheidend von einer ausführlichen Diagnostik bei Ersterkrankung zum Ausschluss anderer körperlicher Erkrankungen, der Krankheitseinsicht des Patienten, einer individuellen Therapieplanung unter Berücksichtigung der Bedürfnisse des Betroffenen sowie Ansprechen auf die Therapie und letztendlich vom subjektiven Behandlungserfolg abhängt.

Prognostisch günstig und damit für die objektive Lebensqualität, d. h. aus Therapeutenperspektive wesentlich, sind ein früher Behandlungsbeginn, gleichzeitige medikamentöse und Verhaltenstherapie sowie psychosoziale Behandlung, Zuverlässigkeit des Patienten und eine nachhaltig gesicherte fachspezifische Betreuung. Behandlungsziel ist eine Remission bzw. Symptomreduktion und ein gutes Funktionsniveau mit der Fähigkeit, selbstbestimmt zu leben und zu arbeiten sowie sich in ein soziales Umfeld zu integrieren. Genesungsfaktoren und damit Voraussetzungen für eine gute Lebensqualität sind familiäre Unterstützung, kognitive und soziale Fähigkeiten, Stärkung des Selbstvertrauens, Freizeitgestaltung mit sportlichen Aktivitäten und der Verzicht auf Suchtmittel und vor allem ein Ansprechen auf die Medikation ohne beeinträchtigende Nebenwirkungen.

Ausblick

„Als Behandler haben wir nicht das Recht, die individuelle Lebensqualität eines Einzelnen zu definieren oder zu bestimmen. Die Anforderungen zur Wahrung der Patientenrechte und Selbstbestimmungsfähigkeit – auch mithilfe der in Deutschland 2009 ratifizierten UN-Behindertenkonvention und Gesetzgebung zur Zwangsbehandlung – haben in den vergangenen Jahren immens an Bedeutung gewonnen. In diesem Zusammenhang sollte es Aufgabe aller an der Behandlung Beteiligten sein, den Patienten – vorausgesetzt, er ist zu einer freien Willensbildung in der Lage – über seine Erkrankung aufzuklären und über medizinische Behandlungsmöglichkeiten, Risiken und Alternativen zu informieren, damit er in die Lage versetzt werden kann, zu entscheiden, welche therapeutischen Maßnahmen er, auch mit Blick auf seine Lebensqualität, annehmen kann. Das letzte Wort hat der Patient, auch dann, wenn er entscheidet, keine Behandlung durchzuführen“, betont Christiane Stein abschließend. „Die Aufrechterhaltung der Autonomie und Teilhabe an Entscheidungen ist eine wesentliche Voraussetzung für eine gesundheitsbezogene Lebensqualität.“

Bild: Fotolia/Serhii Holdin

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