Artikel erschienen am 25.06.2019
E-Paper

Nachverdichtung nach oben

Aufstockung von Bestandsobjekten statt Flucht in die Peripherie?

Von Dipl.-Ing. Georg Müller, Braunschweig

Der Mangel an bezahlbarem Wohnraum legt nahe, neben der Umwidmung und Wohnbebauung zentrumsnaher Flächen auch andere Ressourcen zu erschließen. Dabei gerät die Aufstockung bestehender Immobilien zunehmend ins Visier. Eine brauchbare Strategie?

In Ballungszentren und Städten fehlen Wohnungen. Das Defizit in der Stadt verdrängt Familien ins Umland, der Flächenverbrauch steigt dort weiter an, der Verkehr zwischen Wohnung und Arbeitsplatz nimmt zu. Siedlungsränder entwickeln sich, Zentren bluten aus. Es besteht Handlungsbedarf und die Diskussion wird auf allen Ebenen geführt.

Doch geeignete Flächen zur zentrumsnahen Erschließung weiterer Neubauprojekte sind rar. Die Lösung verlangt nach differenzierten Konzepten und rückt mit der Aufstockung bestehender Objekte ein bislang untergewichtetes Feld in den Fokus. Studien gehen davon aus, dass bundesweit durch Aufstockungen mindestens 2,3 Mio. Wohnungen zusätzlich geschaffen werden könnten – und das in nachgefragten Lagen, ohne Kosten für Grunderwerb und unter Weiternutzung bestehender Infrastruktur. Doch das Vorgehen zur Erschließung dieses Potenzials unterscheidet sich von der klassischen Neubauentwicklung – neben konstruktiven Fragen sind verstärkt Planungs- und baurechtliche Hemmnisse zu erörtern und aufzulösen.

Welche Objekte kommen in Frage?

Laut einer Studie des Pestel-Instituts und der TU Darmstadt könnten bis zu 1,5 Mio. Wohneinheiten auf bestehenden Wohngebäuden errichtet werden, zudem weitere rund 1,2 Mio. Wohnungen auf innerstädtischen Parkhäusern, Büro- und Verwaltungsgebäuden sowie auf Flächen der Einzelhandelsdiscounter. Damit wäre das im Koalitionsvertrag der Bundesregierung avisierte Ziel, 1,5 Mio. Wohnungen neu zu schaffen, bereits übererfüllt, ohne zusätzliche Flächen zu beanspruchen. Doch inwieweit erfüllen die genannten Objekte die Anforderungen der Entwickler? Während bei der Aufstockung mehrgeschossiger Wohngebäude die vorhandene Vertikalerschließung nach oben erweitert und im obersten Geschoss dem Bestand ähnliche Strukturen geschaffen werden können, müssen bei Gewerbe-, Funktions- und Verwaltungsbauten Lösungen für teils untypische Gebäudetiefen und individuelle Erschließungskonzepte gefunden werden. Weitere Probleme ergeben sich aus der Mischnutzung und dem vielfach nicht gegebenen Planungsrecht. Die Aufstockung von Wohngebäuden ist daher sicherlich der naheliegende Ansatz, um zusätzliche Wohnfläche wirtschaftlich zu generieren, die Aufstockung von Funktionsgebäuden dagegen eröffnet zusätzliches Potenzial in sonst völlig unzugänglichen zentralen Lagen. Die Auseinandersetzung der Einzelhandelsketten mit Konzepten, die statt des bisher üblichen eingeschossigen Systembaus Wohnen und Handel kombinieren, zeigt, dass die Diskussion mittlerweile auch dort zum Umdenken animiert.

Neubau Dachgeschossaufstockung auf Bestandswohngebäude

Wie kann geprüft werden, ob Aufstockungen möglich sind?

Ein hoher Anteil der mehrgeschossigen Wohnhäuser aus den 1950er- bis 1990er-Jahren ist laut einschlägiger Studien konstruktiv geeignet, um zumindest um ein zusätzliches Geschoss erweitert zu werden. Aber der Teufel steckt wie immer im Detail: Fragen des Brandschutzes, der vorhandenen Baukonstruktion, der Tragfähigkeit und der Gründung sind zu klären – eine Prüfung der Rahmenbedingungen und Untersuchungen im Vorfeld sind daher bei Aufstockungsprojekten aufwendige, aber immens wichtige Schritte in der Projektentwicklung und in der Planung.

Darüber hinaus sind die Planungs- und baurechtlichen Rahmenbedingungen zu prüfen – insbesondere in engen innerstädtischen Lagen werden die Grenzen des Zulässigen schnell erreicht, z.B. die Einhaltung der Abstandsflächen oder das Maß der baulichen Nutzung. Hinzu kommt die Verpflichtung, für zusätzliche Wohnungen Stellplätze zu schaffen: Gerade in zentralen Lagen kann kaum eigene Grundstücksfläche für weitere Stellplätze zur Verfügung gestellt werden, die Stellplatzsatzungen widersprechen mitunter aktuellen verkehrspolitischen Zielen und erscheinen nicht mehr zeitgemäß, Ablösesummen belasten die Budgets. Hier wäre es Aufgabe der Politik und Stadtentwicklung, planungsrechtliche Vorgaben zu prüfen und Handlungsspielraum zu schaffen.

Ausbau der obersten Geschosse von drei Hochhäusern zu Wohnungen

Kosten/Nutzen und Nachhaltigkeit

Und wie stellt sich die Aufstockung in der Kosten-/Nutzenbetrachtung dar? Lohnt es sich, in ein neues Geschoss zu investieren, unter erschwerten Baustellenbedingungen und angesichts der Eigenschaften eines teils schon Jahrzehnte alten Bestandsgebäudes? Liegen im Bestand keine Hinweise auf eine Einschränkung der Restnutzungsdauer vor, so ist die Kombination aus Sanierung und Aufstockung durchaus konkurrenzfähig zum Neubau – solange im Zuge der Aufstockung ein Objekt mit durchgehendem Instandhaltungszustand der Konstruktion und Haustechnik geschaffen wird. Insbesondere die Verbindung im Bestand anstehender Modernisierungen mit der Erweiterung nach oben bietet Vorteile: So kann bspw. eine notwendige Strangsanierung im Bestand gleichzeitig das neue Geschoss anbinden, ein ohnehin instandsetzungsbedürftiges Dach könnte gegen die Zusatzetage ersetzt werden und würde die Dämmung der obersten Geschossdecke im Zuge der Aufstockung mitliefern. Die Anwendung von Modul- und Fertig­teilbauweisen für die Dachaufstockung verlagert die Ausführungsdauer von der Baustelle in die Werkstatt und trägt dazu bei, Kosten sowie die Beeinträchtigung der Bewohner durch Baulärm zu senken.

Der größte Vorteil der Nachverdichtung nach oben liegt jedoch darin, dass neuer Wohnraum ohne Kosten für Grunderwerb, Erschließung und technische Infrastruktur entsteht und die Wirtschaftlichkeit hier bereits günstiger Gebäudetypen weiter erhöht wird – unter Stärkung bestehender urbaner und sozialer Gefüge. Serienfertigungen über System-/Modulhersteller bringen zusätzliche Effekte auf der Kostenseite.

Gestalterische Möglichkeiten im Dachgeschossausbau

Fazit

Die Nutzung brachliegender Dachflächen und die Aufstockung bestehender Gebäude zur Schaffung von Wohnraum erfordern einen genauen Blick bei der Voruntersuchung und im Planungsprozess, bieten jedoch erhebliche Potenziale. Es lohnt sich sowohl aus wirtschaftlichen, als auch aus stadtplanerischen, ökologischen und soziologischen Gründen, diese Potenziale aufzuschließen.

Ähnliche Artikel

Immobilien

Fallstricke beim Hausbau und Grundstückskauf

Hausbau und Grundstückskauf stehen häufig in einem Zusammenhang. In der Annahme, Steuern und Kosten zu sparen, beurkunden die Vertragspartner dabei manches Mal nur den Grundstückskauf notariell, nicht aber den Hausbauvertrag.

Braunschweig/Wolfsburg 2019 | Rüdiger Giesemann, Braunschweig | Manfred Hofmeister, Braunschweig

Immobilien

Architektur und alternative Energiekonzepte im Wohnungsbau

Integrativer Planungsprozess | Schnittstellen zwischen Bauherr, Planer und Gesetzgebung

Die Frage nach dem geeignetsten Energiekonzept gewinnt immer mehr an Bedeutung und somit auch die Wahl der richtigen Partner in der Planung und Ausführung alternativer Energiekonzepte. Architekten und Haustechnikplaner müssen eng verzahnt zusammenarbeiten, um optimale Lösungen für den Bauherrn zu entwickeln. Die Bedeutung der integrativen Generalplanung rückt hierbei immer mehr in den Fokus.

Braunschweig 2015/2016 | Dipl.-Ing. Jörn Stäbe, Braunschweig | Dipl.-Ing. Kirstin Pahl, Braunschweig