Artikel erschienen am 01.12.2013
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Schlüssellochchirurgie des Übergewichts

Von PD Dr. med. Julian W. Mall, Hannover

Übergewicht (lat. Adipositas) ist ein dramatisch zunehmendes Problem unserer Gesellschaft. Mehr als 1,2 Mio. Erwachsene leiden in Deutschland unter einem krankhaften Übergewicht. Das Übergewicht wird aus dem Verhältnis von Körpergewicht zur Körpergröße in m² errechnet und wird als Body Mass Index (BMI) bezeichnet. Das länger anhaltende krankhafte Übergewicht führt zu zahlreichen Folgeerkrankungen wie Zuckerkrankheit, Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen, Sekundenschlaf, Anstieg der Krebserkrankungen und chronischen Gelenkerkrankungen an Hüfte, Knie und Rücken mit einer erheblichen Einschränkung der Lebensqualität der Patienten. Die Sterblichkeit übergewichtiger Menschen ist deutlich erhöht. Man schätzt, dass die Lebenserwartung stark übergewichtiger Menschen um 12 – 14 Jahre kürzer ist als die gleichaltriger normalgewichtiger Mitmenschen.

Viele Patienten versuchen über Jahre ihr Gewicht mit verschiedensten Diäten auch unter ärztlicher Aufsicht zu verringern, aber häufig ist dies nicht erfolgreich oder der erreichte Gewichtsverlust kann langfristig nicht gehalten werden. In diesen Fällen kann die Chirurgie dauerhaft helfen. Verschiedene Operationsmethoden kommen in der Übergewichtschirurgie zur Anwendung. So kann durch die Implantation eines sogenannten Magenbandes eine Einengung des Mageneingangs mit der Bildung eines kleinen Vormagens erreicht werden. Durch diese Methode wird ein früheres Sättigungsgefühl erreicht und die Aufnahme großer Nahrungsmengen unmöglich. Eine weitere, insbesondere in den letzten zehn Jahren etablierte Methode ist die Bildung eines Schlauchmagens. Hierbei wird ein Teil des Magens operativ entfernt und der verbleibende Teil zu einem Schlauch umgeformt. Ein Vorteil dieser Methode ist die Entfernung des Magenanteils, in dem das Hungerhormon Ghrelin gebildet wird. Dieser Botenstoff ist maßgeblich für die Entstehung des Hungergefühls und deshalb kommt es nach dieser Operation häufig zu einem fehlenden Hungergefühl, was die Essgewohnheiten nachhaltig positiv beeinflusst. Die derzeit weltweit häufigste Operation in der Adipositaschirurgie ist der Magenbypass. Hier wird der Magen unter Belassen eines kleinen Vormagens operativ durchtrennt und der kleine Teil direkt mit dem mittleren Teil des Dünndarms verbunden. Dies führt nicht nur zu einer deutlich reduzierten Menge an aufgenommener Nahrung, sondern gleichzeitig auch zu einer geringeren Verdauung der aufgenommenen Nahrung, da diese erst in der Mitte des Dünndarms mit den körpereigenen Verdauungssäften wie Galleflüssigkeit und Bauchspeicheldrüsensekret zusammentreffen.

Welcher Eingriff für den jeweiligen Patienten am besten geeignet ist, muss durch eine sorgfältige Prüfung durch einen in der Übergewichtschirurgie erfahrenen Operateur in jedem Einzelfall überprüft werden. In den letzten Jahren ist die Zahl an Übergewichtsoperationen in Deutschland und Europa deutlich angestiegen. Während in den 1970er-und 1980er-Jahren die Operationen sämtlich über große Bauchschnitte durchgeführt wurden, ist heute die Anwendung der minimalinvasiven Operationstechnik (sog. Schlüssellochchirurgie) die Methode der Wahl. Dies führt im Vergleich zu offen ausgeführten Übergewichtsoperationen durch ein geringeres Operationstrauma zu einer deutlich geringeren Belastung der Patienten, einem geringeren Schmerzmittelbedarf nach der Operation und zu einer kürzeren Erholungszeit und verkürztem Krankenhausaufenthalt als nach offenen Operationen. Natürlich kann es auch nach Übergewichtsoperationen zu Komplikationen kommen. Jedoch sind diese nicht häufig und liegen in operativen Zentren, die diese Eingriffe oft durchführen, zwischen 2 – 4 %. Das Risiko der Übergewichtsoperation muss insbesondere aufgewogen werden gegen das oben beschriebene Risiko der Begleiterkrankungen des krankhaften Übergewichts, das im Falle eines unbehandelten Fortschreitens der Erkrankung eintritt.

Nach einer Magenschlauch- oder Bypassoperation ist in den ersten Jahren mit einer bis zu 80 %igen Verminderung des Übergewichtes zu rechnen. Die Leistungsfähigkeit, Belastbarkeit sowie das Selbstwertgefühl der Patienten steigen verständlicherweise stark an. Erfreulicherweise kommt es häufig zur Rückbildung oder deutlichen Verbesserung vorher bestehender Begleiterkrankungen wie der Zuckerkrankheit, Schlafapnoe oder dem Bluthochdruck. Viele Patienten benötigen im Laufe der Zeit weniger oder gar keine Medikamente mehr zur Einstellung des Blutzuckers oder des Blutdrucks.

Insgesamt ist die Möglichkeit einer Schlüssellochoperation zur Verminderung des krank­haften Übergewichts eine wertvolle Behandlungsmöglichkeit für Patienten, die ihr Gewicht nicht auf anderem konservativem Weg dauerhaft relevant vermindern können. Natürlich ist eine Entscheidung für eine solche Operation verbunden mit der lebenslangen Auseinandersetzung mit der Übergewichtserkrankung. Die Opera-tion ist nicht der einzige Schritt zur Bekämpfung der Krankheit, sondern häufig im wahrsten Sinne des Wortes der „einschneidende“ Schritt zur dann möglichen Verhaltens- und Lebensumstellung nach der Operation. In diesem Bewusstsein entscheiden sich zunehmend mehr Patienten als letzten Ausweg für ein solches Verfahren.

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