Artikel erschienen am 23.08.2017
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Hörsystemtechnik: Was Hörgeräte alles leisten!

Von Johannes Kohorst, Braunschweig

In unserem Alltag begegnen wir immer wieder herausfordernden Situationen für unser Gehör und sind einer Fülle von Geräuschen und Lärm ausgesetzt. Beispielhaft seien hier Straßen- und Maschinenlärm genannt oder ein lautes Großraumbüro am Arbeitsplatz, vollbesetzte Restaurants, Diskotheken, Konzerte oder ein aktives Vereinsleben. Fast überall muss das Gehör täglich Außergewöhnliches leisten und arbeitet dabei präzise, detailliert und zumeist unbewusst.

Ein Hörgerät mit Gadget-Schnickschnack
Besonders dem selektiven Hören kommt hierbei eine entscheidende Bedeutung zu. Dabei werden im Hörzentrum des Gehirns alle Geräusche, Stimmen und Musik sortiert, gefiltert und zugeordnet. Einfach gesprochen, trennen wir Wichtiges vom Unwichtigen, hören wir hin und blenden wir aus. Dieses selektive Hören oder Filtern ist jedoch durch eine Hörminderung häufig besonders beeinträchtigt. Gruppensituationen werden somit anstrengend und die Gespräche werden undeutlicher. Diese wichtige Funktion des selektiven Hörens wird durch moderne Hörsysteme dank der Digitaltechnik innovativ und effektiv unterstützt.

Die Entwicklungsgeschwindigkeit ist rasant: Noch vor zehn Jahren waren die heutigen Möglichkeiten der Automatiken, der Klangqualität oder die kleinen Maße der Gehäuse gar nicht abzuschätzen und zu erwarten. In der Hörsystementwicklung stecken jahrelange und intensive Forschungen in Bereichen wie z. B. Physiologie des menschlichen Gehörs und Know-how in kleinster Mikrotechnik mit hoher Rechenleistung. Auch psychoakustische Phänomene des Gehörs werden dabei berücksichtigt, die dem Hörsystemträger heute viele Vorteile im alltäglichen Hören bieten und die Lebensqualität deutlich verbessern. Auf die Wichtigsten möchte ich hier genauer eingehen:

Die Digitaltechnik

Durch die Digitaltechnik lassen sich moderne Hörsysteme im Hörakustikfachgeschäft per Computer sehr genau auf die individuelle Hörfähigkeit des Kunden programmieren. Die Einstellmöglichkeiten sind dabei in den letzten Jahren immer umfangreicher geworden, was sich positiv auf die Klangqualität und auf die Feinanpassung für spezifische Hörsituationen auswirkt.

Dank der Digitaltechnik, den hochwertigen Analog-Digitalwandlern und der schnellen Rechenleistung des Chips können Hörsysteme komplexe Schallanalysen vornehmen und innerhalb von Millisekunden Veränderungen regis­trieren. Sprache und Alltagsgeräusche werden differenziert, da sie unterschiedliche Charakteristika aufweisen.

Die Analyse findet in Lautheit, Spektrum, Richtung, zeitlicher Dauer und weiteren Parametern statt, und das viele Male pro Sekunde in Echtzeit. Viele Funktionen arbeiten dabei adaptiv, das heißt sie passen sich selbstständig an die sich verändernden akustischen Alltagssituationen an, ohne dass der Nutzer eingreifen muss. Man spricht deshalb von intelligenten Hörsystemen.

Die Mehrmikrofontechnik

In vielen Hörsystemen sind zwei hintereinander positionierte und aufeinander kalibrierte Mikrofone verbaut, die durch die Chipsteuerung des Hörsystems verschiedene Richtcharakteristiken erzeugen können. Diese Richtungssteuerung kann entweder per Fernbedienung oder manuell per Knopfdruck aktiviert werden, wird aber bei vielen Hörsystemen vollautomatisch vom Hörsystem reguliert. In ruhigen Situationen bleibt eine gleichmäßige Hörbarkeit in alle Richtungen. Wird die Situation lauter und komplexer mit Gesprächen und Geräuschen, ändern die Mikrofone die Fokussierung.

Die Richtung wird dabei so bestimmt, dass Störgeräusche möglichst nicht im Fokus und dementsprechend weniger hörbar sind. Das Gespräch hingegen ist im Optimalfall direkt im Fokus und bleibt dadurch deutlich. Manche Mehrmikrofone richten sich nach vorne in Blickrichtung aus, da man i. d. R. den Gesprächspartner ansieht. Detailliertere Mehrmikrofone steuern vollautomatisch in einen sehr kleinen Fokusbereich und haben dabei einen Radius von 360 Grad zur Verfügung. So bleiben für den Hörsystemträger auch Gespräche von der Seite oder von hinten hörbar und Geräusche werden noch stärker reduziert, was z. B. bei Gesprächen im Auto angenehmer sein kann.

Die Sprachhervorebung

Sprache wird von modernen Hörsystemen durch eine Reihe charakteristischer Eigenschaften wie z. B. Modulation und Spektrum sicher erkannt und technisch aus dem Gesamtgeräusch hervorgehoben. Im Idealfall können Gespräche wieder ohne besondere Anstrengung geführt und verfolgt werden. Dies hängt natürlich auch vom Grad der Hörschädigung und der individuellen Wahrnehmung ab. Ein optimales Hörergebnis bedingt häufig einen längeren Anpassungsprozess.

Die Störgeräuschfilterung

Hierbei unterscheidet das System gleichbleibende Geräusche wie Kühlschrankbrummen, Maschinen- und Straßenlärm etc. und sog. transienten Schall, wie das Zuschlagen einer Tür, Geschirrgeklapper oder lautes Klatschen. Die Analyse der Hörumgebung findet dauerhaft und viele Male pro Sekunde statt.

Dabei erkennt die Impulsfilterung transienten Schall automatisch und reagiert innerhalb von Millisekunden, sodass der plötzliche Knall sofort gedämpft wird. Gleichmäßige Geräusche dagegen werden zunächst wenige Sekunden analysiert, bevor die Filterung aktiviert wird. Würde das System hier sofort eingreifen, würde das Hören sehr unruhig, hektisch und unnatürlich wahrgenommen werden.

Der Pinnaeffekt

Die anatomische Form der menschlichen Ohrmuschel (=Pinna) erzeugt durch die Abschattung nach hinten eine natürliche Vorne-hinten-Lokalisation. Bei Hinter-dem-Ohr-Hörsystemen fällt diese Lokalisationsmöglichkeit weg, da die Schallaufnahme nun über dem Ohr an den Hörsystemmikrofonen und nicht mehr über die Ohrmuschel selbst stattfindet. Einige Hörsysteme bilden diese Ohrmuschelcharakteristik deshalb technisch nach und stellen diese Richtungslokalisation wieder her.

Binaurale Synchronisation

Trägt der Hörgeschädigte an beiden Ohren Hörsysteme, spricht man von einer binauralen Versorgung. Das Hörsystempaar vergleicht die akustische Alltagssituation und synchronisiert die oben beschriebenen Automatiken untereinander. Durch diese Abstimmung werden die Wirkungsweise der Technik und das Richtungshören wesentlich präziser. Leistungsstarke Hörsysteme transferieren nicht nur Steuerungs-, sondern auch Audiodaten untereinander. So kann ein einfaches Telefongespräch, bei dem der Hörer an ein Hörsystem gehalten wird, auf beiden Ohren gehört werden.

Die automatische Musikerkennung

Vor einigen Jahren hatten Hörgeräte bei Musik mit gleichzeitigem Gesang und bei verschiedenen Musikstilen Schwierigkeiten, sich selbstständig passend auf diese einzustellen, da die Störgeräuschfilterung immer wieder „dazwischenfunkte“ und Instrumente als Störgeräusch „erkannte“ und deshalb filterte. Seit ca. zwei Jahren können Hörsysteme dank eines neuen Analyseverfahrens und eines eigens dafür entwickelten Prozessors Musik nun präzise automatisch erkennen. Die Hörsysteme erreichen hier z. T. CD-Qualität.

Apps und Bluetoothverbindung

Seit zwei Jahren sind Hörsysteme per App steuerbar, sodass Lautstärke, Klang oder andere Parameter per Smartphone vom Hörsystemträger verändert werden können. Die Benutzerfreundlichkeit wurde hierdurch deutlich verbessert. Die Möglichkeiten sind umfangreicher und die Bedienung ist intuitiver. Die neueste Entwicklung ist die direkte Bluetooth-Vernetzung. Aktuelle Hörsysteme werden, anders als vorher, ohne eine zusätzliche Funk-Schnittstelle direkt per Bluetooth mit anderen Bluetooth-Geräten wie Smartphones, Laptops, TV etc. verbunden. Der Hörsystemnutzer hört so über beide Hörsysteme/Ohren den Gesprächspartner am Telefon und hört wie über Kopfhörer den Musik- oder Fernsehton in Stereo.

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