Artikel erschienen am 16.05.2014
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Wer schlecht hört, baut früher ab

Zusammenhang zwischen Hörverlust, Demenz und Alzheimer

Von Andreas Posimski, Braunschweig | Sylke Posimski, Braunschweig

Wenn Senioren immer schlechter hören, leidet das Sozialleben. Aber nicht nur das, auch ihr Gehirn trägt Spuren davon: Bei den Betroffenen verringern sich die geistigen Fähigkeiten wesentlich schneller als bei gut hörenden Altersgenossen. Das ist das Ergebnis einer Studie der John Hopkins Universität in Maryland.

Fast 2 000 Männer und Frauen im Alter von 75 bis 84 Jahren beteiligten sich an der Studie von Frank Lin und seinen Kollegen. 1 162 von ihnen hatten von Beginn an Einschränkungen ihres Hörvermögens. Das bedeutet nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO), dass die Probanden unter anderem nur Geräusche über einer Lautstärke von 25 Dezibel (dB) genauer zuordnen konnten.

Geistiger Abbau ist beschleunigt

Während der über sechs Jahre laufenden Untersuchung wurde wiederholt die Hörfähigkeit untersucht und parallel mit standardisierten Tests das Gehirn auf die Probe gestellt. Besondere Schwerpunkte lagen auf dem Erinnerungsvermögen und der Denkfähigkeit. Es zeigte sich, dass Schwerhörige ein 24 % höheres Risiko für nachlassende geistige Fähigkeiten hatten. „Bei Individuen mit eingeschränktem Hörvermögen war der beobachtete Verfall gegenüber gut hörenden Vergleichspersonen um 30 bis 40 % beschleunigt“, fassen die Autoren zusammen. Konkret bedeutet das, dass Schwerhörige schon nach 7,7 Jahren so wenig Punkte in den Gedächtnistests holten wie die Vergleichsgruppe erst nach 10,9 Jahren.

Langzeitschäden für das Gehirn

„Unsere Ergebnisse zeigen, dass Hörverlust kein unbedeutender Teil des Älterwerdens ist. Denn die Gesundheit des Gehirns könnte dadurch ernstzunehmende Langzeitschäden nehmen“, sagt Lin. Deswegen sei es sehr wichtig, dass Ärzte mit ihren Patienten über Schwerhörigkeit sprechen, betonen die Forscher.

Grund: Soziale Isolation?

Eine mögliche Erklärung für den beschleunigten geistigen Verfall könnte die soziale Isolation sein, die ein stark eingeschränktes Hörvermögen oft verursacht. Außerdem zwingt das schlechtere Hören das Gehirn möglicherweise, zu viel Energie in die Verarbeitung von Geräuschen zu stecken. Die fehlt dem Denkorgan dann für andere Tätigkeiten. Lin und seine Kollegen wollen nun in einer großangelegten Studie untersuchen, inwiefern Hörhilfen den entdeckten Prozess aufhalten oder zumindest verlangsamen können.

Zusammenhang zwischen Gehör, Demenz und Alzheimer

Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen Hörverlust und den Krankheiten Alzheimer und Demenz.

  • Bei schwerhörigen Senioren ist die Wahrscheinlichkeit an Demenz zu erkranken viel höher als bei denjenigen, die gut hören.
  • Bei Personen, die 60 Jahre oder älter sind, besteht ein mehr als 36 %-iges Risiko der Demenzerkrankung aufgrund von Hörverlust.
  • Der Hörverlustgrad korreliert mit einem erhöhtem Alzheimer-Risiko.
  • Jede neue Verschlechterung des Hörvermögens um 10 dB entspricht einer Erhöhung des Alzheimer-Risikos um 20 %.
  • Hörverlust kann auch fälschlich als Demenz diagnostiziert werden, da die Symptome des Hörverlusts denen des Gedächtnisverlusts gleichen (Depression, Ängstlichkeit, Verleugnung der Krankheit, schlechtes Sprachverstehen).
  • Bei 83 % der offiziell als demenzkrank befundenen Senioren war ein Hörverlust von mehr als 25 dB festgestellt worden.
  • Nachdem der Hörverlust dieser Patienten korrigiert wurde, wurden sie erneut auf Demenz untersucht. Im Ergebnis wurde bei 33 % dieser Patienten eine leichtere Demenz diagnostiziert.
  • Die Korrektur der Hörverlusts kann also bestimmte Symptome einer bestehenden Alzheimer- oder Demenzerkrankung, wie z. B. Gedächtnisverlust, abschwächen.
  • Um die Schwere der Demenzerkrankung richtig bestimmen zu können, sollte bei der Differentialdiagnose von Gedächtnisverlust grundsätzlich ein umfassender Hörtest durchgeführt werden.

Depressionen und andere psychische Erkrankungen im Zusammenhang mit Hörverlust

Das Risiko, an einer Depression oder einer anderen psychischen Krankheit zu erkranken, ist für Erwachsene mit unbehandeltem Hörverlust in jedem Alter sehr hoch. Eine in Australien durchgeführte Befragung von Menschen mit Hörverlust wies folgende Ergebnisse auf:

  • 60 % litten an depressiven Verstimmungen.
  • 52 % berichteten über erhöhte Stress- und Reizempfindlichkeit.
  • 22 % litten an Schlafstörungen.

Wie stark eine Depression oder andere psychische Erkrankung bei einer Person mit Hörminderung ausgeprägt ist, hängt offenbar von dem Grad ihres Hörverlusts ab. Bei zunehmendem Hörverlust nehmen u.a. die folgenden psychosozialen Krankheitssymptome der 18 bis 70 Jahre alten Testpersonen zu:

  • Stress
  • Somatisierung
  • Depression
  • Einsamkeitsgefühl.

Nahezu jeder Hörverlust lässt sich heute problemlos mit modernen Hörgeräten ausgleichen. Gutes Hören bedeutet Lebensqualität und Lebensfreude – darauf sollte niemand verzichten. Das bestätigen auch die Krankenkassen und erhöhten 2014 ihre Zuzahlungen enorm.

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