Artikel erschienen am 10.05.2013
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Karies

Das Loch im Zahn oder eine Erkrankung, die zu Löchern führt

Von Andreas Ohnhäuser, Braunschweig

In den westlichen Industrienationen sind ca. 98 % der Bevölkerung mindestens einmal an Karies erkrankt. Das Auftreten von Löchern ist so weit verbreitet, dass es in großen Teilen der Bevölkerung schon als normal angesehen wird, ein Loch zu bekommen. Die Therapie richtet sich seit Jahren weitestgehend darauf aus, die ständig wieder auftretenden Löcher mit körperfremden Materialien zu restaurieren.

Das Kariesmodell

Das zurzeit am weitesten verbreitete Kariesmodell ist das 4-Faktoren-Modell. Es besagt, dass, wenn Zähne, Bakterien, Zucker und Zeit zusammenkommen, dies zu Karies führt. Gemeint ist das Loch im Zahn. Ein anderes Modell beruht auf der Idee der biologischen Balance. In dem speziellen Fall von Karies auf der Balance des Mineralisationsgleichgewichtes zwischen Zahnhartsubstanz und dem Speichel. Es besagt, dass Bakterien, die in Form von Plaque auf den Zähnen haften, Zucker und Kohlenhydrate zu Milchsäure verarbeiten können. Diese Milchsäure führt dann zu einem Auflösen (Demineralisation) der Zahnoberfläche unterhalb der Plaque. Die Zahnoberfläche wird porös. Ist dieser Vorgang beendet und der Speichel umspült wieder den Zahn, dreht sich der Prozess um. Mineralstoffe im Speichel werden nun wieder in die Zahnoberfläche eingebaut (Remineralisation) und nach einer gewissen Zeit ist die Wunde im Zahn wieder verheilt. Liegt eine Fluoridionenschicht auf der Zahnoberfläche vor, beschleunigt diese die Remineralisationsvorgänge erheblich. Das Mineralisationsgleichgewicht befindet sich in Balance. Reicht die Zeit jedoch nicht für eine vollständige Remineralisation der Zahnoberfläche und kommt es aufgrund von erneuter Zuckerzufuhr zur nächsten Demineralisation, bevor der Defekt vollständig ausgeheilt ist, vergrößert sich der Defekt im Zahn. Es liegt einen Dysbalance vor. Bis zu einem gewissen Grade ist der Schaden noch reversibel. Bleibt es jedoch bei der Dysbalance, vergrößert sich der Defekt immer weiter, bis irgendwann die Zahn­oberfläche so porös ist, dass sie einbricht. Nun fehlen die für die Remineralisation wichtigen Leitstrukturen in der Zahnoberfläche und eine Heilung oder Reparatur durch den Körper ist nicht mehr möglich. Der Schaden ist irreversibel.

Die Erkrankungsphasen

Auf der Grundlage dieses Modells kann man die Erkrankung Karies grob in drei Phasen aufteilen. Da wäre zuerst die gesunde Phase. Die De- und Remineralisationsvorgänge halten sich die Waage oder die Remineralisation überwiegt sogar. Es kommt zu keinem Zahnsubstanzverlust und eventuell sogar zum Ausheilen von alten reversiblen kariesbedingten Defekten. Die zweite Phase ist die adaptive (anpassende) Phase. Hier überwiegen die Demineralisationsvorgänge und es kommt zu einem Verlust von Mineralien der Zahnoberfläche. Solange jedoch die wichtigen Leitstrukturen im Zahnschmelz erhalten sind, ist eine komplette Ausheilung oder eine Reparatur (Vernarbung) der Defekte durch den Körper noch möglich. In der dritten Phase, der zerstörenden Phase, ist es durch ein langwieriges Überwiegen der Demineralisation zu irreversiblen Defekten der Zahnoberfläche gekommen und eine körpereigene Reparatur ist leider nicht mehr möglich.

Die Therapieebenen

Entsprechend den Erkrankungsphasen kann man nun auch die Therapie in drei Phasen einteilen. Ist es zu irreversiblen Zahnschäden gekommen (zerstörende Phase), ist nur noch eine entfernende (amputierende) oder ersetzende (restaurierende) Behandlung – z. B. durch Füllungen und Kronen – möglich. Befindet sich der Patient in der adaptiven Phase, ist durch Verschiebung des Mineralisationsgleichgewichtes weg von der demineralisierenden hin zur remineralisierenden Seite eine körpereigene Reparatur (Vernarbung) oder sogar komplette Heilung der Zahnschäden möglich. Befindet sich der Patient in der gesunden Phase, können präventive Maßnahmen das Erkrankungsrisiko für die Zukunft eventuell noch weiter reduzieren.

Restauration

In der restaurativen Behandlungsphase werden zuerst irreversible, nicht mehr erhaltungswürdige Zahnstrukturen entfernt (ausgebohrt, Wurzelkanalsystembehandlung oder Zahnentfernung) und diese z. T. in einem zweiten Schritt durch körperfremde Materialien ersetzt (Restaurationen wie Füllungen, Kronen oder Implantate). Im deutschsprachigen Raum wird hier oft von zahnerhaltenden Maßnahmen gesprochen, was bei dem Modell des Mineralisationsgleichgewichtes jedoch irreführend ist. Diese Maßnahmen allein führen nicht zu einer Gesundung, sondern dienen hauptsächlich der Wiederherstellung der Funktion der Zähne. Diese Maßnahmen sind dann zwingend erforderlich, wenn das erkrankte Gewebe die Wiederherstellung der Balance be- oder verhindert. Wenn dies nicht der Fall ist, wird z. T. diskutiert, ob die Entfernung und Restauration unter gewissen Umständen eher eine „Kann-Entscheidung“ darstellt.

Heilung und Reparatur

Befindet sich der Patient auf der demineralisierenden Seite des Mineralisationsgleichgewichtes und will er gesund werden, so sind nun Maßnahmen, die dem Körper bei der Heilung und Reparatur der Schäden helfen, zwingend erforderlich. Eine Umkehrung der Balancestörung ist das Ziel. Eine Möglichkeit ist, die demineralisierenden Vorgänge zu reduzieren, hauptsächlich durch seltenere Zuckerzufuhr und eine Verringerung der Plaquemenge. Aber auch die Remineralisation kann verstärkt werden. Die Speichelproduktion kann durch Kauen (z. B. Kaugummi) erhöht und das Fluoridangebot kann oft optimiert werden. Fluorid auf der Zahn­oberfläche beschleunigt die Remineralisationsvorgänge erheblich, was zu einem schnelleren Verschließen der porösen Zahnoberfläche führt.

Prävention

Das Ziel der präventiven Maßnahmen ist eine Verringerung des Erkrankungsrisikos. Voraussetzung dafür ist, dass Gesundheit in Form eines ausgeglichenen Mineralisationshaushaltes der Zähne vorliegt. Das bedeutet, selbst ohne präventive Maßnahmen käme es nicht zu einem irreversiblen Zahnhartsubstanzverlust. Eine Möglichkeit, das Kariesrisiko zu reduzieren, besteht darin, die Balance weiter zugunsten der Remineralisation zu verschieben mit dem Ziel, Adaptionsreserven für eventuell kommende Balanceverschiebungen zur Seite der Demineralisation zu schaffen. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, Risikofaktoren – dies sind Faktoren, die nicht direkt am Mineralisationsgleichgewicht beteiligt sind, aber De- und Remineralisationsfaktoren ungünstig beeinflussen können, z. B. Plaqueretentionsnischen wie Zahnstein oder überstehende Füllungsränder – zu minimieren.

Konsequenzen für die Diagnostik

Welche Konsequenzen hat dies nun auf die Dia­gnostik der Erkrankung Karies? Symptome allein, wie z. B. Löcher, haben nur eine bedingte Aussagekraft über den aktuellen Krankheitsgrad. Sie zeigen, dass es einmal eine dauerhafte Verschiebung des Mineralisationsgleichgewichtes gegeben hat oder aber auch noch gibt. Um dies jedoch zu unterscheiden, sind weitere Befunde – wie z. B. die Häufigkeit der täglichen Kohlenhydratkontakte, das tägliche Fluoridangebot, die Plaquemenge und die Speicheleigenschaften – erforderlich. Noch präziser wird die Diagnostik und die Vorhersehbarkeit des weiteren Krankheitsverlaufes, wenn nicht nur die aktuellen Daten vorliegen, sondern auch noch der Verlauf der einzelnen Befunde über eine längere Zeit in Form von korrespondierenden Kurven betrachtet werden kann.

Ausblick

Kariöse Defekte sind heilbar. Ähnlich wie bei einem Knochenbruch kann Zahnhartsubstanz wieder nachwachsen, solange wichtige Leitstrukturen in der Zahnoberfläche noch intakt sind. Die Drill- und Fill-Therapie entspricht nicht mehr dem aktuellen Erkenntnisstand und trägt auch nicht zu einer Gesundung bei. Einfache Maßnahmen wie Ernährungslenkung und Förderung des Reparaturpotenziales des Speichels durch Fluorid setzen an den Ursachen der Erkrankung an und können so zu dauerhafter Mundgesundheit und Wohlbefinden führen.

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