Artikel erschienen am 01.05.2012
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Das Fitnessrezept mit den 64 Feldern

Der Großmeister Vlastimil Hort spielt seit über 50 Jahren Turnierschach

Von Katharina Kleinschmidt

Es ist ein natürlicher Prozess, dass die geistige Fitness im Alter nachlässt. Diese Entwicklung kann aber aufgehalten oder zumindest verlangsamt werden, wenn genügend Reserven vorhanden sind und im täglichen Training immer wieder neu aufgefrischt werden. Wer im Alter regelmäßig in komplexeren Zusammenhängen denkt, baut weniger ab. Schach gilt dabei als das perfekte Rezept, das außerdem noch Spaß macht: Wer einmal mit dem Königsspiel begonnen hat, wird selten wieder aus seinem Bann gelassen.

Das Potenzial des menschlichen Gehirns liegt in seiner Komplexität. Ganz unterschiedliche Fähigkeiten setzen sich zu diesem „Gesamt­kunstwerk“ zusammen, seien es Erinnerungs­ver­mögen, logisches und mathe­matisches Denken, strategische Organisation und Kreativität. Zu den neudeutsch als „skills“ bezeichneten Kompe­tenzen gehören außerdem Konzen­tration, Fantasie und Intuition. Diese zu fördern und zu fordern, bedeutet lebens­langes Lernen. Nach Ansicht von Vlastimil Hort arbeitet unser Verstand im „Normal­betrieb“ nur mit etwa 20 % seiner Leistung. Die Herausforderung sei, die restlichen 80 % zu aktivieren. Sein persönliches Rezept: das Schachspiel.

Hort weiß um die Komplexität des Königspiels: „Schach ist keine Wissenschaft, aber in Denkstrukturen dieser durchaus ähnlich. Viele Schachspieler haben eine große Affinität zur Wissenschaft. Der Schachweltmeister von 1894 bis 1921, Emanuel Lasker, promovierte als Mathematiker und diskutierte mit Einstein über die Relativitätstheorie.“ Der gebürtige Tscheche ergänzt: „Man lernt ‚fürs Leben‘. Es kommt beim Schach der Moment, an dem man Entscheidungen treffen muss. Man muss flexibel sein, man kann Probleme nicht aussitzen.“ Derart gerüstet, spielt der 68-jährige auch heute noch auf Weltniveau. Schach ist eben das perfekte Jogging für das Gehirn, und zwar unabhängig vom Alter.

Die Freiheit der Entscheidung

Vlastimil Hort wirbt mit großer Leidenschaft und Eloquenz für seinen Sport. „Ein Schachspiel ist ein Kunstwerk. Aber natürlich ist da auch der absolute Siegeswille“, erklärt er und relativiert gleichzeitig: „Manchmal fühle ich mich auch gut nach einem verlorenen Spiel, wenn ich weiß, dass mein ‚Produkt‘ einfach gut war.“ Und was ist für ihn die Quintessenz des Spiels? „Schach ist die letzte Oase, in der der Mensch nicht nur automatisch Knöpfe drückt. Man kann sich frei entscheiden. Schach sagt viel über den Charakter der Spieler aus. Wenn ich die Aufzeichnung eines Matchs sehe, kann ich ganz viel über die Persönlichkeit eines Spielers erfahren, z. B. seine Risikobereitschaft, ob er aggressiv ist oder eher vorsichtig, ob er Klarheit mag.“ Hort wünscht sich eine größere Lobby für das Spiel: „Unsere Gemeinde ist riesig, viel größer als man glaubt. Überall auf der Welt wird Schach gespielt.“ Und er betont wiederholt: „Man kann Schach bis ins hohe Alter spielen.“

Vlastimil Hort spielt nicht nur das klassische Schach, sondern auch Blind- und Simultan­schach, daneben Blind­simultan­schach, bei dem man gleichzeitig gegen mehrere Gegner spielt, ohne auch nur ein Brett zu sehen. Erst kürzlich fiel hier der über 60 Jahre alte Weltrekord. Der Günzburger Marc Lang spielte parallel 46 Partien, die er mit 34,5 : 11,5 Punkten für sich entschied (wir berichten über den Weltrekord ausführlich in unserem Artikel Gewagt und gewonnen). Hort kommentierte den Weltrekordversuch live. Er bescheinigte Lang hohes spielerisches Können, fand aber für dessen extreme Fitness keine Erklärungen.

Fitness für Jung und Alt

Am Beispiel des Weltrekords im Blindsimultanschach zeigt sich auch, dass körperliche und geistige Fitness korrespondieren. Um die Wettkampflänge von immerhin 21 Stunden durchzustehen, wurde Marc Lang zum Ausdauersportler: 50 Kilometer Fahrradfahren und einen Kilometer Schwimmen standen jeden Tag in den Wochen vor dem Rekord auf dem Programm. Körper und Kopf beflügeln sich offensichtlich gegenseitig zu Höhenflügen. Wissenschaftler der Universität Ulm haben herausgefunden, dass die regelmäßige Bewegung das Gehirn trainiere, weil es Koordinationsarbeit leisten müsse: Sport macht das Gehirn schlicht effektiver. Im Gegenzug motiviert geistige Agilität zu mehr sportlicher Betätigung.

Dem Wunsch nach mentaler und körperlicher Fitness gesellt sich bei älteren Menschen heute oft der Wunsch nach anhaltender Attraktivität hinzu. Die „jungen“ Alten, früher als Zielgruppe kaum beachtet, erobern heute die Märkte. Folgerichtig fordern sie Angebote ein, die ihre Lebensqualität erhöhen. Auch Vlastimil Hort sieht man seine 68 Jahre nicht an: Mit seinem Temperament nimmt er es mit vielen Jüngeren auf.

Die Vorzüge des Schachsports verbindet Hort mit einem weiteren Anliegen: Es sei erwiesen, dass Jugendliche, die Schach spielen, deutlich weniger anfällig für Drogen und Gewalttätigkeit seien als andere. Der Großmeister macht die Ausformung des Charakters durch das Schachspiel dafür verantwortlich und ist sicher: „Die Gesellschaft muss Kindern und Jugendlichen mehr Gelegenheit bieten, Schach zu lernen.“ Damit sei der Grundstein für eine lebenslange Freundschaft gelegt. Und Vlastimil Hort hat eine Idee, wie das geht: „Die Ganztagesschule, inzwischen schon flächendeckend in Deutschland praktiziert, ist dafür der perfekte Ort.“

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