Artikel erschienen am 26.06.2019
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Gesundheitsschutz im Arbeitsrecht

Compliance-Falle und Spielfeld betrieblicher Mitbestimmung

Von Karl Geißler, Gütersloh

Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin errechnet für das vergangene Jahr 107 Mio. Krankheitstage und daraus folgende Produktionsausfälle im Wert von 12,2 Mrd. Euro. Das Arbeitsrecht gibt der daran anknüpfenden Diskussion über Gesundheitsschutz im Arbeitsverhältnis ihren Rahmen. Neuere Entscheidungen der Arbeitsgerichte zeigen hier nicht nur Compliance-Fallen auf, sondern eröffnen neue Spielräume für betriebliche Mitbestimmung, die Betriebsräte nur allzu gern auch in der Praxis nutzen.

Grundpflichten des Arbeitsgebers

Das Arbeitsschutzgesetz verpflichtet den Arbeitgeber, die „erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes" zu treffen, sie auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen und erforderlichenfalls sich ändernden Gegebenheiten anzupassen, definiert also den Gesundheitsschutz als fortwährende Aufgabe. Im Rahmen der Organisationsverantwortung müssen Verantwortlichkeiten definiert, individuell, personenbezogen und schriftlich(!) übertragen, Schulungsbedarf identifiziert und dokumentiert werden.

Ausgangspunkt aller Maßnahmen zum Gesundheitsschutz ist die Beurteilung der Arbeitsbedingungen, die die Gefährdungsbeurteilung über psychische Belastungen bei der Arbeit miteinbezieht. Das Gesetz normiert, dass die Ergebnisse dieser Gefährdungsbeurteilung zu dokumentieren sind. Die Arbeitnehmer sind auf Basis dieser Gefährdungsbeurteilung über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit auf Grundlage der Gefährdungsbeurteilung zu unterweisen. Wer nicht in die sprichwörtliche Compliance-Falle tappen will, sieht sich folglich mit erheblichem Arbeitsaufwand konfrontiert.

Gesundheitsschutz als individualrechtliche Pflicht

Die eben definierten arbeitgeberseitigen Pflichten bestehen allerdings nicht nur als öffentlich-rechtliche Pflichten, sondern auch als individuelle Pflichten im Arbeitsverhältnis mit dem einzelnen Arbeitnehmer. Die arbeitgeberseitige Fürsorgepflicht verlangt, dass der Arbeitgeber den Arbeitsplatz und die konkrete Arbeit so organisiert, dass der Arbeitnehmer vor Gesundheitsgefahren zumindest soweit geschützt ist, als die Natur der Dienstleistung es gestattet.

Verletzt der Arbeitgeber seine so im Gesetz (§ 618 BGB) definierten Fürsorgepflichten, setzt er sich nicht nur im Falle von Gesundheitsschäden Schadensersatzpflichten aus, sondern riskiert, dass zugewiesene Aufgaben mit Blick auf (angebliche) Gesundheitsgefahren verweigert werden. Gerade die steigende Sensibilität für psychische Gesundheitsgefährdungen führt hier in der betrieblichen Praxis zu seltsamen Auswüchsen. Die Zahl der sogenannten Überlastungsanzeigen steigt. Einzelne empfinden sie geradezu als Freibrief, Kollegen arbeiten zu lassen oder Arbeiten zu unterlassen. Das Bundesarbeitsgericht hat dem im vergangenen Jahr Grenzen gesetzt, gleichzeitig jedoch den Blick auf Gesundheitsgefährdungen am Arbeitsplatz geschärft: Der Arbeitgeber hatte der Arbeitnehmerin, die ihre Arbeit wegen angeblicher Gesundheitsgefährdung verweigert hatte, gekündigt. Das Bundesarbeitsgericht meint zwar, dass eine solche Arbeitsverweigerung berechtigt sein könne. Bloß geringfügige oder kurzzeitige Verstöße gegen die Fürsorgepflicht ohne nennenswerte Schadenspotenzial rechtfertigten aber eine solche Verweigerungshaltung nicht. Im konkreten Einzelfall, bei dem die Arbeitnehmerin die temporäre Zurverfügungstellung eines Holzstuhls am Schreibtisch für schlechthin unzumutbar hielt, mag dies recht einfach zu beantworten sein. Wie schwierig die Abgrenzung im Einzelfall ist, zeigt aber eine jüngere Entscheidung des LAG Schleswig-Holstein, das eine Arbeitsverweigerung nicht für kündigungsrelevant hielt, wenn im Rahmen einer Gefährdungsbeurteilung ein hoher Arbeitsdruck und ein nicht ausreichender Personalschlüssel zu beklagen gewesen seien. Beziehen sich, wie im Mutterschutzgesetz entsprechende Pflichten zudem auf Angehörige eines bestimmten Geschlechts, führt deren Missachtung, wie der EuGH erkannt hat, zusätzlich zu einer Diskriminierung wegen des Geschlechts.

Nur wer also Arbeitgeberpflichten beim Gesundheitsschutz ernst nimmt, schützt sich vor Schadenersatzansprüchen seiner Arbeitnehmer, bewahrt sich arbeitsrechtliche Handlungsmöglichkeiten und schützt sich vor der gern geübten Ausrede angeblicher psychischer Belastung und Überforderung.

Gesundheitsschutz – Einfallstor für entgrenzte Mitbestimmung

Mindestens ebenso große Gefahren lauern auf mitbestimmungsrechtlichem Terrain. Regelungen über den Gesundheitsschutz im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften unterliegen der zwingenden Mitbestimmung des Betriebsrats. Immer dann, wenn ein arbeitgeberseitiger Ermessensspielraum bei der Ausfüllung gesetzlicher Normen zum Gesundheitsschutz besteht, ist der Arbeitgeber auf die Zustimmung des Betriebsrates angewiesen. Ggf. wird in einem zeitaufwendigen Einigungsstellenverfahren eine Lösung herbeigeführt werden müssen.

Insbesondere müssen – so das BAG – gemeinsam mit dem Betriebsrat die Untersuchungsgegenstände einer Gefährdungsbeurteilung, mögliche Gefährdungsfaktoren sowie Auswahl und Details der Durchführungsmethode geregelt werden. Der Betriebsrat hat dabei ein Initiativrecht. Kritisch ist dabei weniger die Mitbestimmung als solche als die mögliche quälende Länge eines Mitbestimmungsverfahrens. Die fehlende Bereitschaft des Betriebsrates sich zu einigen, ändert nämlich nichts an den arbeitgeberseitigen Handlungspflichten und den eben beschriebenen Gefahren im Einzelarbeitsverhältnis. Man wird kaum anders können, als in derartigen Blockadesituationen zunächst einseitig Gefährdungsbeurteilungen zu initiieren. Glücklicherweise stellt das LAG Schleswig-Holstein in diesem Zusammenhang fest, dass das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats zwar existiere, für dessen Durchsetzung und Sicherung durch (einstweilige) Unterlassungsverfügung aber der Verfügungsgrund fehle. Dies gibt zumindest den Raum, die Dauer eines Hauptsacheverfahrens zu nutzen, um dringend benötigte Einigungen zu verhandeln, zeigt aber auch die Notwendigkeit rechtzeitigen und proaktiven Handelns.

Nur dies bietet die Chance, auf dem driving seat Platz zu nehmen und nicht bloß Mitfahrer bei von Betriebsräten initiierten Entscheidungsprozessen zu werden. Das Bundesarbeitsgericht hat nämlich hierfür neue Wege eröffnet. Während bislang galt, dass nur das Vorliegen einer unmittelbaren objektiven Gefahr für die Gesundheit der Beschäftigten die Mitbestimmung auslöse, meint das Gericht nun, schon eine bloße Gefährdung reiche hierfür aus. Das BAG öffnet Betriebsräten damit ein Land beinahe unbegrenzter Möglichkeiten. Erste Fälle hierzu prägen die Rechtsprechung bis zum BAG. So bejaht das Gericht Mitbestimmungsrechte für eine „BV Klima“ über Maßnahmen als Reaktion auf Raumtemperaturen unter 17° und über 30°, die wohl kaum konkrete Gesundheitsgefahren, möglicherweise aber Gefährdungen auslösen. Man mag all dies ins Lächerliche ziehen und beklagen, dass Kosten und personelle Ressourcen in „spannende“ Mitbestimmungsprozesse über die Erlaubnis Krawatten abzulegen oder Pullover zu tragen investiert werden müssen. Die Öffnung des Mitbestimmungsrechts führt aber zu Diskussionen über weit härtere arbeitsrechtliche Konsequenzen. So ist streitig, ob aus Überlastungssituationen folgende psychische Gefährdungen den Weg dazu öffnen, ggf. im Wege der Einigungsstelle Regelungen über die Mindestbesetzung von einzelnen Arbeitsbereichen zu erzwingen. Dies ginge weit über die bislang bekannten Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates bei der Personalplanung hinaus und würde tief in unternehmerische Entscheidungsfreiheiten eingreifen. Zwar erteilt die zweitinstanzliche Rechtsprechung entgegen der erstinstanzlichen Entscheidung einer derart entgrenzten Mitbestimmung (zurecht) eine Absage. Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts steht noch aus, die Frage ist in der arbeitsrechtlichen Literatur hoch umstritten.

Unwägbare Auseinandersetzungen hierüber kann nur derjenige vermeiden, der proaktiv handelt und Regelungen mit Augenmaß in ein Mitbestimmungsverfahren einbringt. Wer sich „wegduckt“ und von immer besser geschulten Betriebsräten treiben lässt, läuft Gefahr, Opfer entgrenzter Mitbestimmung zu werden und die Führung seines Unternehmens in entscheidenden Fragen aus der Hand zu geben. Das Thema Gesundheitsschutz wird die arbeitsrechtliche Praxis in den Unternehmen prägen. Dies ist arbeitsrechtlich unvermeidbar, vor dem Hintergrund der durch Fehlzeiten hervorgerufenen Kosten ein Gebot der Wirtschaftlichkeit, nicht zuletzt auch Teil sozialer Verantwortung, Der Wunsch nach Gesundheit sollte nicht nur Lippenbekenntnis guter Wünsche zum Jahresbeginn sein. Gesundheitsförderung – arbeitsrechtlich richtig gestaltet – ist aller Mühen wert.

Info

Gesundheitsschutz ist nicht nur wirtschaftliches Gebot, sondern gelebte soziale Verantwortung. Wer hier nicht proaktiv handelt und die notwendigen arbeitsrechtlichen Regelungen schafft, setzt sich erheblichen Haftungsrisiken aus, beraubt sich arbeitsvertraglicher Gestaltungsinstrumente und macht sich zum Getriebenen entgrenzter Mitbestimmung.

Bild: Fotolia/Janis Abolins

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